Der Bus war eine Katastrophe. Es gab keine Klimaanlage und es roch nach Zwiebeln und undefinierbaren Speisen. Die Sitze müffelten, kein Wunder, sie trugen den Schweiß und den Schmutz von Fahrgästen der letzten 29 Jahre. Bis zum Bärsten voll, fuhr der Bus dann eine halbe Stunde zu spät los. Kommt davon, wenn man den günstigsten Bus bucht. Die angekündigten sechs Stunden brachten wir in acht hinter uns und sie kosteten 30 Soles, umgerechnet 7,50 €.
Um 21 Uhr kamen wir in Puno an. Wie immer wurden wir von eifrigen Taxi-Fahrern erwartet, die uns für horrende Preise vom Busbahnhof wegbringen wollten. Doch wir kannten die Tricks bereits und nahmen ein Taxi außerhalb des Geländes und fuhren günstig zum Hostel.
Das Hostel war eine Katastrophe. Wir kamen in ein Drei-Bett-Zimmer, in dem sich bereits ein anderer breit gemacht hatte, er war wohl davon ausgegangen, es käme an diesem Abend keiner mehr. Der tief schlafende Fremde machte keine Anstalten sein Hab und Gut der Allgemeinheit zuliebe etwas beiseite zu räumen, so bahnte ich mir einen Weg ins Bett. Nach einer langen ungemütlichen Busfahrt ist es doch nicht zu viel verlangt, ein wenig Ruhe zu haben.
Hätte die Nacht einen Namen, so würde sie „Wenig Schlaf“ heißen. Am nächsten Morgen verließen wir das Zimmer so schnell es ging, begaben uns in den Frühstücksraum und aßen Käsebrot und Banane, dazu trank ich einen Tee aus Cocablättern, Puno liegt auf 3800 Metern Höhe und Coca soll gegen die Höhenkrankheit helfen.

Nach dem Frühstück machten wir uns auf zu einem anderen Hostel, diesmal sollte ich eins raussuchen, ein Amt welches Tjorben bislang bekleidete und damit mal mehr, mal weniger Glück hatte.
Wir gingen zu dem Hostel und wurden freundlich empfangen, der Hostelier meinte, wir könnten für den selben Preis auch ein Zwei-Bett-Privatzimmer bekommen, da wir für die Betten im 10-Bett-Zimmer vermutlich etwas zu groß wären. Müde und der überschwänglichen Freude unfähig, bedankten wir uns und ließen uns das Zimmer zeigen. Ich duschte, legte mich hin und schlief ein. Endlich Ruhe!
Es war Nachmittag geworden. Wir standen auf und Tjorben verspürte Kopfschmerzen und Unwohlsein, die Höhe schlug ihm auf. Mir machte sie erstaunlicherweise nichts aus, war ich im bisherigen Verlauf der Reise nicht gerade mit Widerstandsfähigkeit gesegnet gewesen, so war ich es wohl dieses Mal.
Wir gingen zum See. Ein Satz der ordinär klingen mag, doch der See von dem ich spreche, ist kein anderer als der Titicacasee. Als Kind hat man den Namen schonmal gehört, doch eine Vorstellung hatte man nie.
Er ist der 18-größte Süßwassersee der Welt, in etwa so groß wie Brandenburg und 281 Meter tief.

Es fühlt sich ein bisschen nach zu Hause an: das Wasser, die Außentemperatur. Doch zuhause ist „100 Meter gehen“ nicht mit einer so großen Anstrengung verbunden. Der geringere Sauerstoffgehalt der Luft auf fast 4000 Metern ist deutlich spürbar, das Herz schlägt viel schneller und beim Atmen hat man das Gefühl kaum Luft zu kriegen. Zum Vergleich: der größte Berg Deutschlands, die Zugspitze, ist lächerliche 2962 Meter hoch. Wir gehen über Straßen und Fußwege an Geschäften, Restaurants und Sportplätzen vorbei, fast einen Kilometer weiter oben. Beeindruckend! Anstrengend!

Wir setzten uns am Hafen in ein Restaurant, die Gegend um den Titicacasee ist bekannt für Trucha, eine Regenbogenforelle, die einst von Kanadiern mitgebracht wurde und jetzt den See bewohnt. Wie es mit invasiven Arten aber so ist, werden heimische Arten verdrängt. Die Bestände der Regenbogenforelle sind daher groß, sehr zur Freude der menschlichen Seebewohner. Es wird überall Trucha gegessen.
Der Geschmack ist mir sehr vertraut, mein ehemaliger Stiefbruder brachte das ein oder andere Mal ein Exemplar vom Angeln mit und so kam der Fisch mit dem lachsfarbenen Fleisch und dem leicht erdigen Süßwassergeschmack schonmal auf den Tisch.
Ich liebe Fisch, es ist DAS Essen meiner Heimat und Fisch haben die Peruaner definitiv verstanden. Ich bestellte frittierte Forelle mit andinischen Kartoffeln und Choclo, dem Riesenmais. Großartig! Die Kartoffeln werden an den Hängen der Berge ausgelegt, nachts gefrieren sie, tagsüber werden sie durch die starke Sonneneinstrahlung getrocknet. Die Kunst des Gefriertrocknens haben die Andenbewohner vor tausenden Jahren bereits beherrscht. Die nun schwarzen Kartoffeln, auch „Chuños“ genannt, sind dadurch nun ohne Kühlung mehrer Monate bis Jahre haltbar. Sie schmecken allerdings etwas gewöhnungsbedürftig.
Wir verbrachten zwei Tage in Puno ohne großes Programm. Lange schlafen, günstig essen gehen, wieder schlafen, wieder günstig essen gehen. Durch den limitierten Sauerstoff hatten unsere Tage nur 10 Stunden, bis wir uns einigermaßen akklimatisiert hatten.
Tjorben ging es übel, er schlug vor, Puno schnell wieder zu verlassen, doch ich wollte nicht irgendwann erzählen müssen, am Titicacasee gewesen zu sein, den Titicacasee aber nicht wirklich gesehen zu haben.
Wir buchten eine Tour auf dem See für 18,- €.
Um 7 Uhr ging es los. Wir wurden am Hostel von einem Touri-Bus abgeholt und fuhren zum Hafen. Dort angekommen, ging es über einen Steg zu unserem Boot. Der „Steg“ bestand aus mehreren nebeneinander geparkten Booten, die provisorisch aneinander fest gemacht waren. Wir setzten uns ins Boot und warteten auf die Abfahrt, ein Straßenmusikant kam herein, spielte ein Solo aus Gitarre und Panflöte und bat um Trinkgeld. Nachdem er gegangen war, machte man uns darauf aufmerksam, dass wir im falschen Boot säßen. Was für eine Überraschung!
Im richtigen Boot platziert, ging es los. Unser Guide, ein Strahlemann mit Sonnenbrille und Markenklamottem, begann zu erzählen. Immer auf englisch und spanisch. Der Titicacasee ist berühmt für die schwimmenden Inseln. Die Uros, eine Ureinwohnergemeinschaft, baut große Inseln aus einem bestimmten Schilf, dessen Wurzelmasse schwimmt. Die Inseln haben einen historischen Hintergrund: früher wurden die Uros regelmäßig von den kriegerischen Inka angegriffen, drohte ein Angriff wurden die Inseln vom Festland gelöst und die Uros brachten sich auf dem See in Sicherheit. Einfallsreich!

Das Boot machte an einer der Inseln fest und wir betraten das Nicht-Fest-Land. Die ganze Reisegruppe setzte sich in einen Kreis um den Guide und dieser stellte uns den Häuptling der Insel vor, die Touris machten fleißig Fotos von den Anwohnern, Tjorben und mir war dies furchtbar unangenehm, Persönlichkeitsrechte scheinen nur in Deutschland schützenswert. Waren wir im Zoo?
Der Guide erzählte uns von der untergeordneten Rolle der Frau und wie die Uros auf sogenannten „Barcos Romanticos“ Liebe und Kinder machen. In direkter Anwesenheit der Frauen und des Häuptlings. Diese sprechen quechua, eine indigene Sprache, der Guide sprach aber englisch und spanisch. Zum Schluss sangen die Frauen Lieder für uns. Auf quechua, spanisch und englisch. Eine unangenehme Darbietung. Über die Weisheit, die Menschlichkeit und die Geschichte der Uros erfuhren wir kaum etwas, der Besuch galt eher des Vergleichs: ihr seid unterentwickelt, wir sind modern und zivilisiert, was besseres. Schauderhaft!
Wir gingen wieder aufs Boot und legten ab. Die Weiterfahrt zur nächsten diesmal festen Insel sollte 1 1/2 Stunden dauern, diesmal durften wir auch das Dach des Bootes betreten. Ich hielt es drinnen nicht mehr aus mit den ganzen selbstherrlichen rücksichtslosen Touristen, tat wie mir geheißen und setzte mich auf den einzigen Klappstuhl auf dem Dach.

Das Rauschen des Wassers, das Vibrieren des Motors, der Wind im Gesicht und der Wellengang. Es war ein Moment von Monotonie.
Monotonie ist in unserer Leistungsgesellschaft ein negativ behafteter Begriff. Doch ich halte Monotonie für die effektivste Methode den Geist und die Psyche zu heilen. Übersetzt bedeutet Monotonie „Eine Spannung“. Man setzt der Wahrnehmung lediglich einen Reiz aus. Das alltägliche Leben platzt vor Reizüberflutung, der Verstand versucht zu verstehen, das Unterbewusstsein versucht zu verarbeiten. Hinterher kommen beide nicht und doch werden sie süchtig danach. Erwartungen, Ziele, viele Aufgaben auf einmal, Zeitdruck. Dann irgendwann Burnout. Dann zum Psychotherapeuten und dann auf Therapie oder Kur. Dort wird dann in der Vergangenheit gegraben, es gibt Erwartungen, Ziele, viele Aufgaben auf einmal, Zeitdruck. Es ist mehr vom selben. Albert Einstein hat einmal gesagt: „Man kann ein Problem nicht mit derselben Denkweise lösen, die es erschaffen hat!“
Ich bin überzeugt, der beste Weg ein Problem zu lösen, ist sich von dem Problem zu lösen. Der Verstand ist das Problem, das Ego. Man muss sich also in einen Zustand von „No Mind“ versetzen. Das ist Monotonie. „No Mind“ ist immer dann wenn wir nicht denken. Auf einen Sonnenuntergang blicken, aufs Meer starren, in die Wüste oder verschneite Berge gehen, Momente in denen lediglich ein einziger Reiz herrscht. Das Rad, in dem man immer lief, verlassen, sich heraus nehmen. Die Seele über den Verstand bringen. Das ist Monotonie. Das Ego hält Monotonie schwer aus, es braucht immer mehr, es ist nie genug. Das Ego nennt Monotonie Langeweile. Doch Monotonie zu erleben bedeutet im Jetzt zu leben. Es bedeutet, dass alles eins ist. Es bedeutet alleine zu sein. Es bedeutet die Mitte zu finden. Monotonie ist Meditation.
Wenn der Verstand aus ist und man wieder voll bei der Sache ist, entsteht das Schöpferische, die Kreativität. Die Karten werden neu verteilt. Neue Ideen werden geboren. Das Leben macht wieder Spaß, man weiß wieder, wer man ist und worum es im Leben geht.
Wir legten auf der Insel Taquile an. Ein felsiges, warmes und grünes Fleckchen Erde mit wunderschöner Flora.

Die neugierige Menschenmasse bewegte sich einen malerischen Pfad hinauf zu einem kulturellen Platz, auf dem sich die Inselbewohner sonst zum Feiern und Tanzen trafen, jetzt ist er gesäumt von Souvenirständen. Die zermoniell gekleideten Bewohner führten einen Tanz in der Mitte des Platzes auf, ich ärgerte mich, Teil dieser Tourismus-Maschinerie zu sein, mit den hundert anderen verwöhnten Leuten dort zu sitzen, einem Impuls folgend nach der leuchtenden Glasscheibe in meiner Hosentasche zu greifen, um das Geschehen abzulichten.

Nun auf 4000 Metern Höhe war Tjorben ziemlich neben der Spur und schleppte sich nur noch mit. Doch Tjorben ziehts durch, der Mann ist kaum kaputt zu kriegen. Tjorben ist wie Istanbul: unzählige Male erobert, angegriffen, beschädigt doch niemals gefallen. Der Vergleich ist zwar hahnebüchend, aber ich denke, es ist klar, was ich meine.
Nächste Station: das Restaurant, der Weg dorthin wunderschön, bunt und lebendig. Viele Schafe, Blumen, Quinoa- und Kartoffelfelder.


Quinoa ist bei uns ein exotisches Superfood, die ersten Hinweise auf Quinoaanbau in den Anden gehen aber auf 3000 Jahre zurück. Superfood muss neu und teuer sein und vor allem von sehr sehr weit weg kommen. Für mein Dafürhalten zeichnet ein „Superfood“ aus, dass es regional und saisonal ist. Zum Beispiel Weißkohl oder Haselnüsse. Aber wer bin ich schon, darüber zu entscheiden. Bekloppt, die Leute aus dem Westen.

Im Restaurant gab es dann leckeren Trucha mit frittierten Kartoffeln, Reis und einer wie immer mickrigen Gemüsebeilage. Wir haben uns eine gekühlte Inca Kola aus der Glasflasche dazu bestellt. Alles in allem ein gutes Essen, dafür dass es in der Tour inklusive war.

Danach ging es dann wieder Richtung Boot, dieses wartete aber auf der anderen Seite der Insel auf uns, so hatten wir die Möglichkeit, den Rest der Insel zu erkunden. Die Menschen haben hier alles, es gibt sogar eine Verfassung, die wie eine Art Religion gehandhabt wird. Sie steht nicht geschrieben, sie besteht im Geiste der Gemeinschaft: lüge nicht, stiel nicht, sei nicht faul. Funktioniert!


Die Fahrt zurück verbrachte ich wieder auf dem Dach, die Mittagssonne verbrannte meine Nase und meine Lippen, doch das war es wert.
Zwar war die geführte Tour bar jeder Pietät, doch wir erhielten die Möglichkeit, diese Orte zu sehen. Ich war am Titicacasee und der Zweck der Tour war erfüllt, ich hielt mich tatsächlich für etwas besseres…
…als die ganzen Touristen.

Abends gingen wir dann in einer Bar etwas essen. Der Cheeseburger schmeckte verdächtig nach altem Rindfleisch, ich hatte eine einfache Lemonada bestellt und bekam einen sehr sehr starken Mojito. Mittelmäßiger Laden!
Der schlechte Burger gab Tjorben den Rest, am nächsten Tag nahmen wir den Bus nach Cusco, Tjorben am Ende, ich mit Sonnenstich. Diesmal hatten wir wieder einen Nachtbus über Cruz del Sur gebucht, das beste Busunternehmen Perus, die sieben Stunden würden wir wieder angenehm reisen.
