Antonius Eschke | Eine Reise

Machu Picchu

Mittwoch, 13. März 2024 | Reiseberichte

„Toni du siehst aus wie ein Soldat, der es nicht durch den Sporteignungstest geschafft hat!“, machte sich Tjorben über mich lustig, nachdem wir aus dem Sprinter gestiegen waren. Ich fand die Farbmischung Waldgrün-oliv-khaki-coyote-braun, dazu die Aviator mit goldenem Rahmen sehr passend für die Expedition nach Machu Picchu. Ich antwortete mit einem selbstironischen Lächeln und wandte mich zu den Franzosen. Neugierig und ratlos standen diese im Kreis um den Fahrer, der ihnen aufgeregt auf Spanisch etwas erzählte und dabei wild mit den Armen in alle Richtungen fuchtelte. Wir verstanden nicht.

Die Kolonne an kleinen Touri-Bussen wurde länger und Fahrgäste aus aller Herren Länder liefen hin und her. Es war staubig und unwirtlich, überall Schutt und Geröll, links ein Abgrund, mindestens 100 Meter tief.

„Hey Guys!“, sprach ich die Franzosen an, ich betete, dass sie englisch sprachen, das halten Franzosen nämlich für gewöhnlich nicht für nötig. „Did you understand, what we are supposed to do now?“, schmunzelnd antworteten sie: „Sure, we had the same question!“. Erleichtert lachte ich und ließ mir die Lage erklären. Die Weiterfahrt sei unmöglich, die Polizei habe die Straße gesperrt und wir müssen jetzt irgendwie den Abhang runter.

Wie alles begann

Es war Nachmittag geworden. Tjorben und ich waren in unseren Hostels, ruhten uns von dem kleinen Ausflug zum Christo Blanco und vom üppigen Essen im Morena aus. Wir einigten uns darauf, jeweils im Hostel den hiesigen Tourberater nach einem guten Deal für Machu Picchu zu fragen. Wir hätten zwei Tage Zeit und es dürfe nicht zu teuer werden.

Der Berater in meinem Hostel sicherte mir eine Fahrt nach Aguas Calientes, eine Übernachtung und ein Abendessen, dem Ticket für Machu Picchu und eine Führung zu, für läppische 350,- €. Ich wäre fast vom Glauben abgefallen, doch tatsächlich ist das im Vergleich ein günstiges Angebot. Machu Picchu ist mit sehr großem Abstand das teuerste Erlebnis in Peru. Doch so viel Geld wollte ich dafür nicht ausgeben. Ich fragte Tjorben, ob er etwas herausbekommen hatte und tatsächlich: der Berater in seinem Hostel war nicht aufspürbar, so schrieb Tjorben der Telefonnummer am Aushang eine Nachricht. Eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Es seien noch zwei Plätze in einem Bus frei, eine Nacht und ein Essen in Aguas Calientes, die Eintrittskarte zu Machu Picchu und eine Führung für 115,- €. Einzige Voraussetzung: wir dürfen den anderen Leuten auf der Tour nichts davon erzählen.

Tjorben ist unglaublich. Er hat ein großes Talent dafür, mit seinem Charme mit Menschen in Kontakt zu kommen und alles zu bekommen, was er möchte. Es muss ein Geheimnis geben. Eine Fähigkeit, die nicht vielen vergönnt ist.

Wir stimmten sofort zu und der Guide organisierte alles für uns. Ich ging los und kaufte Proviant. Tjorben zahlte abends für uns beide und sicherte mir zu, der Bus würde mich um 6:40 Uhr morgens direkt an meinem Hostel abholen.

Unfassbar, ich würde eines der sieben Weltwunder sehen. Mit einer Last-Minute-Buchung. Für den vermutlich günstigsten Preis, den jemals jemand bezahlt hat.

Ich ging früh ins Bett, stellte mir den ersten Wecker meiner Reise und schlief ein. Wie sich herausstellte, war der Zustand „Ausgeschlafen“ auch mehr als nützlich.

Der Wecker klingelte und ich stand vor Aufregung im Bett. Im unteren Abteil eines Hochbetts eine ungemütliche Vorstellung aber es geht ja um das Sprichwort. Ich packte mein Handy und meine anderen sechs Sachen ein und ging schnellen Schrittes zur Ecke vor dem Hostel. Es war schon angenehm warm und hell geworden. Tjorben schrieb, der Bus sei nicht schwer zu erkennen: ein weißer Sprinter. Ich wartete eine halbe Stunde.

Warten. Ein Zustand, den man in Südamerika oft ertragen muss, wenn man deutsche Pünktlichkeit an den Tag legt. In dieser halben Stunde fuhren viele Fahrzeuge an dieser Ecke vorbei und zwei Drittel davon: weiße Sprinter. Das Geschäft mit den Touri-Bussen boomt in Cusco. Ich stellte mich möglichst auffällig an den Straßenrand und bat Tjorben, mit drauf zu achten, dass der richtige Bus mich nicht verpasst.

Auffällig am Straßenrand stehen. Das andere Drittel der Fahrzeuge waren Taxis. Diese fühlten sich kollektiv von meiner aufmerksamen Körperhaltung aufgefordert zu halten und ihr Fahrzeug als Mitfahrgelegenheit feilzubieten. Die halbe Stunde wurde immer anstrengender. Doch dann hielt ein Sprinter und der Fahrer rief meinen Namen. Ich stieg zu und machte es mir in dem Mercedes Benz bequem. Ich starrte auf den Stern vom Lenkrad und dachte: „Wenigstens würden wir nicht auf halber Strecke liegen bleiben.“

Nach einer Viertelstunde fuhr der Fahrer auf eine Tankstelle, er kurbelte das Fenster runter, wechselte ein paar Worte mit der Tankwärtin, wendete den Wagen zwei Mal, hielt, stieg aus, stieg wieder ein, drehte ein Mal vorwärts und zwei Mal rückwärts um die Tanksäulen, stieg wieder aus und wieder ein und fuhr dann weiter.

„Herr, vergib ihnen, sie wissen nicht was sie tun.“, sprach Jesus bei der Kreuzigung.

Zwei Stunden fuhren wir aus Cusco heraus. Cuscos Vororte sind ebenfalls arm, schmutzig und riesengroß. Das bleibt den größeren Städten hier nicht erspart. Die Landbevölkerung zieht in die Städte, um Arbeit, Wasser und Nahrung zu bekommen.

Der Bus hielt an einem Gebäude. Der Fahrer sprach spanisch in einem Tempo, als hätte er zwei Mal den Vorspulen-Knopf betätigt. Ich verstand nicht ein einziges Wort und das würde sich bis zum Ende der Fahrt auch nicht mehr ändern. Wir stiegen aus und betraten das Gebäude. Natürlich, es war ein großer Souvenirshop mit einem kleinen Speisesaal. Hier gab es Frühstück, dieses war aber nicht inklusive. Tjorben und ich bedienten uns an dem Proviant, welchen ich mitgenommen hatte.

Irgendwann bewegte sich die Gruppe wieder zum Bus zurück und es ging weiter. Zwei Stunden über grünes Hochland und dann irgendwann taten sich vor uns riesige Berge und Täler auf, sie waren dicht bewachsen. Wir hatten die Grenze des Regenwaldes passiert.

Ab hier ging es weitere zwei Stunden unzählige Serpentinen und scharfe Kurven rauf und runter. Die Aussicht war atemberaubend. Die Straße war schmal, doch der Fahrer überholte souverän Motorräder, Autos und ganze LKW‘s mit Hänger. „Mutiger Fahrer!“, bewunderte ich den Mann am Steuer „Mutige LKW-Fahrer!“, hängte ich ran. Der Straßenrand war gesäumt von Kreuzen mit Blumen und Fotos. Die Berge fordern ihren Tribut.

Aus heiterem Himmel hielt der Bus dann am Straßenrand an einem kleinen Dorf. Wir stiegen aus und hatten Gelegenheit die sanitären Einrichtungen zu besuchen, am Kiosk überteuerte Snacks und Getränke zu erwerben und die Aussicht zu genießen.

Ich hörte es hinter mir Scheppern. Der Fahrer und ein ihm wohl bekannter Mann aus dem Dorf hatten einen großen blechernen Werkzeugkasten auf den Boden fallen gelassen. Sie legten unter dem Mercedes Kartonpappe aus und machten sich in Rückenlage am Unterboden des Fahrzeugs zu schaffen. Ich hatte mich wohl geirrt!

Nach 15 Minuten kamen die Männer unter dem Wagen hervor. Die Hand wurde geschüttelt und die Weiterfahrt bestätigt. Unten im Tal bog der Fahrer auf eine staubige Schotterstraße ab. Waren wir angekommen?

In Deutschland bedeutet das Fahren auf einer Schotterstraße, dass man die offizielle Straße verlassen und das Ziel sehr bald erreicht hat. Doch ich irrte erneut. Trotz des groben Schotters, waren auf dem Weg Speed Bumps eingelassen. Wer würde hier freiwillig schneller als 30 km/h fahren? Man wollte wohl ganz sicher gehen.

Die Straße führte langsam wieder bergauf und ehe ich mich versah, ging es abseits des Schotterwegs sehr steil bergab. Die Strecke war eine Baustelle, vermutlich erschloss man diesen Weg gerade erst. Es war eine reine felsige Geländepiste mit tiefen Pfützen, braunem Schlamm, Schutt und Geröll. Wir fuhren vorbei an Warnhinweisen, Baustellenschildern, monströsen Baufahrzeugen, regem Gegenverkehr, vereinzelten Felsbrocken, die dann und wann auf die Straße fielen und hart schuftenden Arbeitern.

Schaute man nach links: ein Abgrund. Schaute man nach rechts: Stein. Schaute man aus dem Dachfenster: hunderte Meter steile karge Felswand. Schaute man nach vorne: Schotter und Gegenverkehr.

Angst hatte ich keine. Ich schaukelte mit dem Fahrzeug mit. Ich genoss das Spektakel. Denn das Leben wird mich hier jetzt nicht rausnehmen. Gott hält eine schützende Hand über mir und eine unter mir auf. Das Universum ist noch nicht mit mir fertig. Und ich habe Urvertrauen.

Dann auf einem ebenen Abschnitt standen viele andere weiße Sprinter und drum herum tummelten sich die Touristen und Fahrer. Unser Bus hielt und wir stiegen aus. Der Mercedes hatte unvorstellbares geleistet, die Schwaben wissen, was sie tun.

Nun sollten wir also irgendwie den Abhang herunterkommen. Die Polizei hatte die Straße gesperrt, es war wohl eine große Gerölllawine darauf heruntergegangen. Unten am Fluss würde ein anderer Bus auf uns warten und das letzte Stück fahren. Einer der Guides leitete uns auf einen kleinen Trampelpfad durch dichte Vegetation den Abhang herunter. Die anderen Touristen folgten dem Ruf, es waren hunderte. So wagte sich eine lange Schlange an Menschen den Pfad nach unten. Immer wieder stoppten wir, irgendwer blieb stehen, um sich eine Zigarette anzustecken, ein Selfie zu machen oder im Rucksack rumzukramen. Wir sind schon eine seltsame Spezies.

Irgendwann erhielt Tjorben einen stummen Befehl aus dem Jenseits: die Strecke kann man auch gut Barfuß erleben. Er zog sich die gefütterten Wildleder-Anzugschuhe, die er aus irgendeinem Grund für sinnvolles Schuhwerk auf der Südamerikareise hielt, und die Tennissocken aus. Nach ca. fünf Metern, es können auch sechs gewesen sein, rutschte Tjorben leicht ab und zog sich eine blutige Wunde an der Fußsohle zu.

Meine Füße trennten zwei Zentimeter robustes Polyurethan, gebettet in starkem, undurchlässigem Leder, befestigt mit zugfesten Schnürsenkeln, vom Erdboden. Ich überließ nichts dem Zufall. Tjorben beim Versuch zuzusehen, unter Zeitdruck, wegen der stetig weiterlaufenden Menschenkette, seine schmutzigen, blutigen, nackten Füße zurück in die Schuhe zu packen, erfüllte mich mit ungeheurem Unbehagen. Zu guter Letzt riss der rechte Schnürsenkel ab. Ich hatte noch nie in meinem Leben jemanden so etwas unbequemes machen sehen, noch dazu aus freien Stücken.

Irgendwann kamen wir unten an. Direkt an einem Luxus-Bade-Resort. Ein sonderbares Bild. Doch davor war genug Platz für die Busse, wir stiegen in einen davon ein und warteten auf die Weiterfahrt. Der Zeitplan, den uns der Berater in Cusco gab, war bereits um drei Stunden überschritten. Der Busfahrer verlangte von allen Insassen 5,- € für den Mehraufwand. Eine hitzige Diskussion entbrannte im ganzen Bus. Ich wartete das Ergebnis ab, der Fahrer gab nach und fuhr wütend los. Ca. 20 Minuten sollte es dauern, bis wir endlich in Hidroelectricas ankamen. Der Ort von dem aus man den Rest nach Aguas Calientes wandern muss. Es war bereits 15 Uhr geworden und um 18 Uhr wird es dunkel. Die 10 Kilometer sollte man in den drei Stunden lieber hinter sich gebracht haben.

Wir stiegen aus und Tjorben setzte sich auf einen Stein, um seinen Fuß zu versorgen. Er wollte wenigstens die Wunde ausspülen und sich die Socken und Schuhe wieder richtig anziehen. Ich war von der bisherigen Anfahrt schon etwas bedient und konnte für die missliche aber selbsterwählte Lage von Tjorben wenig Mitleid aufbringen. Entsprechend entnervt betraten wir dann beide das Naturschutzgebiet und begannen die Wanderung nach Aguas Calientes, ein kleines Städchen direkt unterhalb von Machu Picchu.

Wir waren im Regenwald, dieser heißt Regenwald, weil es da ständig regnet. Ein Umstand, den man erst vollständig realisiert, wenn man dort ist. Es ist nass. Überall ist Wasser. Oben, unten, rechts, links, vorne, hinten.

Zeit mein Equipment zu testen. Ich zog meine Regenjacke an und packte meinen Rucksack mit dem Regencape ein. Der Weg bestand aus großem grobem Eisenbahnschotter und nassen Trampelpfaden. Es ging die ganze Zeit am Rio Urubamba und einer alten Bahnstrecke entlang. Februar ist Regenzeit und der Fluss riss sich durch das Tal. Tosend und peitschend stritten sich die Wässer, wer als erstes unten ist. Es war ohrenbetäubend. Aber wunderschön!

Das Flussbett gab an manchen Stellen den ungezähmten Fluten nach und so fiel auch ein Teil der Bahnstrecke der Naturgewalt zum Opfer.

Tjorben ist ein knüppelharter Typ! Mit blutiger Sohle, durchtränktem Wildleder und komplett durchnässter Kleidung setzte er einen Schritt vor den nächsten. Die Höhenkrankheit und der verstimmte Magen, die ihn die letzte Woche plagten, machten das Unterfangen nicht leichter. Tjorben stellte sich großen Herausforderungen, doch das reichte ihm nicht. Also erhöhte er den Schwierigkeitsgrad nochmals durch verschiedene Fehlentscheidungen.

Wir gingen beide in unserem eigenen Tempo. Der Weg war atemberaubend schön. Die verwucherte Bahnstrecke führte durch satte Waldabschnitte. Es duftete intensiv. Alle fünf Meter änderte sich der Duft. Mal roch es nach Tee, mal nach Sommerblüten. Ab und zu roch es nach fermentiertem Unterholz, dann nach Minze und Zitrus. Es war himmlisch.

Die Parfümerie der Natur hinter uns, ging es vorbei an steilen Felswänden, durch magisch vernebelte Täler vorbei an Bergen, so hoch, wie ich sie noch nie gesehen habe. Es sah aus wie in den Hallelujah-Bergen auf Pandora.

Meine Regenjacke tat wirklich einen guten Job, doch irgendwann obsiegte die Feuchtigkeit. Der Schweiß kam der Regennässe entgegen und gemeinsam feierten sie ihre Zusammenkunft. Doch die Nässe machte mir nicht so viel aus. Es war warm und ich gab mich der Alternativlosigkeit hin. Es blieb mir keine Wahl. Dort sein bedeutete, nass zu werden.

Ich konnte mich an dem Naturschauspiel nicht satt sehen, meine Augen und meine Ohren taten weh, die frische Luft durchdrang meine Atemwege und Nebenhöhlen. Meine Sinnesorgane kamen an ihre Grenzen.

Zwar hatte ich ideales Schuhwerk an den Füßen, diese sehnten sich aber allmählich nach Freiheit. Wir kamen endlich an den ersten kleinen Lädchen vorbei und erfrischten uns dort mit einer köstlichen Gatorade. Diese Elektrolytgetränke sind zwar furchtbare Zuckerplörren, doch in solchen Situation sind sie gold wert. Der Schweiß und die körperliche Anstrengung verzehren die Elektrolyte, zudem verliert man viel Wasser und verbrennt ungeheuer viel Energie. Und all diese Bestandtteile sind in so einem Getränk enthalten.

Wir gingen weiter durch ein Dorf auf eine große Sandstraße und mit letzter Kraft schleppten wir uns die Straße hoch. Es dämmerte bereits bis wir es sahen: Aguas Calientes. Ein kleines Städchen am Fluss zwischen den Bergen. Die Fenster der teuren Hotels waren hell erleuchtet und es sah aus wie ich mir ein Bergdorf in der Schweiz vorstellte.

Wir kamen auf dem Marktplatz an, wo vor drei Stunden eine Kontaktperson auf uns hätte warten sollen. Völlig erschöpft fragten wir uns auf dem Platz durch, bis uns endlich ein junges Mädchen an die Hand nahm. Sie sagte, dass sie uns zu dem Restaurant bringe, wo das inklusive Abendessen auf uns wartete. Ich versuchte ihr ziemlich deutlich klarzumachen, dass wir erst ins Hotel wollen, um uns umzuziehen und aufzuwärmen. Sie verstand nicht gleich, wir probierten es verzweifelt so lange, bis sie uns ins ersehnte Hotel brachte. Wir checkten ein, gingen aufs Zimmer und entledigten uns der durchnässten Klamotten. Ich löste die Schnürsenkel meiner Stiefel und zog vollständig trockene Füße aus ihnen heraus. Ich war begeistert, auf diese Treter war Verlass, eines der wenigen Dinge, auf die bisher Verlass war. Ich nahm eine warme Dusche und legte mich müde ins Bett.

Auch Tjorben war heilfroh, angekommen zu sein. Seine Ausrüstung hatte ihn irgendwie ans Ziel gebracht. Es war wie die Anfangsszene aus Fluch der Karibik, in der Captain Jack Sparrow gerade so vom Mast seines sinkenden Bootes den Steg am Hafen erreicht. Er setzte sich erleichtert auf die Bettkante. Ein lautes Reißen ertönte. Die Feuchtigkeit hatte die Integrität der Hose beeinträchtigt, so war sie im Schritt aufgerissen. Seine Gesichtszüge entfielen ihm, wie es schien, war der Ausflug für Tjorben an seinem Tiefpunkt angekommen. Er nahm sein Handy aus der Hosentasche und stellte fest, die Feuchtigkeit war durch den Riss im Display gedrungen und hatte es zerstört. Geknickt packte er seinen Rucksack aus. Er kramte allerlei nasse Gegenstände hervor, dann eine Sammlung an Büchern und Dokumenten. Auch sie hatte das Wasser nicht verschont. Unter ihnen waren auch sein Impfpass sowie das polizeiliche Führungszeugnis, welches wir unbedingt für die Einreise nach Ecuador benötigten. Es war nicht mehr zu gebrauchen. Machu Picchu hatte ihm alle irdischen Besitztümer genommen. Ich saß auf meinem Bett, beobachtete das Leid und war fassungslos. Ich hatte alle Unterlagen im Hostel in Cusco eingeschlossen und das Regencape meines Rucksacks hatte sein Versprechen gehalten.

Wir entschieden, doch noch zum Restaurant zu gehen, glitten in die nassen und jetzt auch kalten Klamotten zurück, gingen los und setzten uns in den Laden. Wir waren die einzigen Gäste, aus guten Grund. Wir bestellten das inklusive Essen und verschiedenes anderes oben drauf. Die Getränke, die wir bestellten, holte ein Kellner fix aus einem Kiosk um die Ecke, das Essen wurde einmal durchs gesamte Restaurant, an uns vorbei, auf die zweite Etage und wieder zurück getragen, bis es schlussendlich doch auf unserem Tisch landete. Besteck kam ein paar Minuten später. Der Service war bemerkenswert schlecht, so sehr, dass man sich gar nicht darüber ärgern konnte, gespannt saßen wir am Tisch und beobachteten: welchen völlig überflüssigen Fehler würden sie wohl als nächstes begehen?

Das Essen erinnerte ans Krankenhausessen zuhause, wenn man Kassenpatient ist. Eine Tomatensuppe aus der Tüte und eine Schuhsohle, die auf der Karte „Alpaca-Steak“ genannt wird. Tjorben hatte seit Tagen kaum was gegessen, die Pizza, die er bestellt hatte, schmeckte ihm, aber in seinem Zustand hätte ihm eh alles geschmeckt.

Wir zahlten und gingen zurück ins Hotel. Ich legte mich hin, das Licht ging aus und ich schlief sofort ein.

Der Aufstieg

Um von Aguas Calientes nach Machu Picchu zu gelangen, gibt es zwei Optionen: den nicht barrierefreien Camino Peatonal, ein steiler Fußweg mit 1600 Steinstufen und den Hiram Bingham, eine Busroute für 10,- €.

Tjorben entschied sich für den Bus, in seinem Zustand traute er sich den Aufstieg nicht mehr zu. Ich überredete meine Oberschenkel, mich fußläufig nach oben zu tragen.

Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker um 4 Uhr. Um 7 Uhr sollten wir uns oben mit dem Guide treffen, dieser versicherte mir, der Aufstieg würde 2 Stunden dauern. Ich hatte mir die Stiefel so richtig fest geschnürt, den Rucksack ergonomisch sinnvoll gepackt. Am Frühstücksbuffet, welches noch nicht eröffnet war, hatte ich mir noch schnell einen Kaffee reinzwingen wollen. Leider beschriften Peruaner die großen Spender nie, so füllte ich erst einen Schluck Milch in die Tasse, dann heißes Wasser. Kaffee gab es wohl noch keinen, ich tauchte eine Portion Coca-Blätter in die ominöse Mischung und trank. Ich sollte den Aufstieg wohl ohne Kaffee auf mich nehmen. Ich schnappte mir noch eine Banane und ein trockenes Brötchen und ging motiviert los.

Der Weg führte ein Stück aus der Stadt heraus, vorbei an unzähligen nebeneinander geparkten Bussen, einem Schmetterlings-Reservoir und einem Maria-Schrein. Es war stockduster und um auf dem Weg nicht noch unglücklich umzuknicken, leuchtete ich mir den Weg mit meiner Handytaschenlampe aus. Irgendwann kam ich zu einer Brücke über den Rio Urubamba. Auf halber Höhe rannte mir ein Mann hinterher und wies mich darauf hin, dass ich das Ticket zu Machu Picchu und meinen Reisepass vorzeigen müsse. Die kleine Hütte mit Kontrolleuren war nicht ausgeschildert und ich hatte sie im Dunkeln übersehen. Ich tat wie mir geheißen und durfte passieren. Ich hatte jetzt den Nationalpark Machu Picchu betreten.

Kurz hinter der Brücke führte ein kleiner Weg in den Wald und da war sie: die erste Stufe. Voller Tatendrang und jugendlicher Energie erklomm ich sie und marschierte mit aufrechter Körperhaltung die ersten hundert Stufen hoch. Mein Herz fing an zu pochen, meine Lungen füllten sich mit jedem Atemzug bis zum Anschlag. Mir wurde warm. Stufe für Stufe ging ich hoch, bis zum ersten kleinen Rastplatz.

Ich war keine 15 Minuten unterwegs, setzte mich und versuchte meinen Körper zu beruhigen.

„Was soll denn die Scheiße hier?“, ärgerte er sich, „Meister, das war so aber nicht abgesprochen, gestern das ganze Gelatsche und heute das? Was kommt als nächstes? Der Iron Man?“. Keuchend antwortete ich: „Kollege, ich diskutier hier jetzt nicht mit dir. Du bringst meinen Arsch jetzt da hoch und basta!“.

Ich stand auf und widmete mich wieder den Stufen. Ich wusste nicht, wie viele Stufen es insgesamt sein sollten. Die einzige Größe, die ich hatte, waren die zwei Stunden. War ich gut in der Zeit? Bin ich eine lahme Ente? Keine Ahnung. Ich kletterte weiter.

Der Busweg besteht aus großen Serpentinen und der Fußweg führt wie ein Bindfaden durch die übereinanderliegenden Straßen. An der ersten Serpentine angekommen, fuhr der erste Bus an mir vorbei. Nicht mehr ganz so aufrecht, blickte ich in die mir zugewandten Gesichter der Fahrgäste.

Man sieht in den Menschen immer sich selbst. Ich sah abwertende Blicke, auf mich herab starrend, verurteilend, erhaben, verachtend. Ich grollte ihnen, wenigstens mache ich den Weg zu Fuß und die Schwächlinge sitzen sich im Bus den Hintern platt. Doch ich erkannte, ich hatte in ihnen wie in einem Spiegel mich selbst gesehen. ICH wertete mich ab, ICH verurteilte mich, ICH war mir peinlich, verschwitzt, keuchend und erschöpft zu sein von ein paar Treppenstufen. Ich sah in mir den fetten unbeliebten Jungen, der ich in meiner Kindheit war. Unsportlich, wertlos und einsam. Die Menschen im Bus sahen einen Mann, der unter großer körperlicher Anstrengung aber entschlossen den Fußweg nahm. Ein Mann der sich für den schweren Weg entschied.

„In Südamerika wirst du auch keinen hoch kriegen!“

Das war die Antwort, die mein Chef in einem cholerischen Anfall in den Hörer brüllte, nachdem ich ihm sagte, dass ich nicht weiter für ihn arbeiten, sondern nach Südamerika gehen werde. Ein Satz, den ich niemals vergessen werde.

Ich machte eine Stufe nach der nächsten, den Blick auf den Boden gerichtet. All diese Gedanken kamen mir, die Treppe zeigte mir das verletzte Kind in mir, sie zeigte mir die Pein, die mein Verstand immer wieder erzeugte, den Grund warum ich im Leben immer wieder zurücksteckte, warum ich ängstlich war, warum ich nicht lebte. Ich weinte. Ich weinte und schrie, die Oberschenkel brannten, der Rücken ächzte, der Regen und der Schweiß ronnen von meinen Augenbrauen, vereinten sich mit den Tränen. Ich ging weiter und weiter, ich wusste nicht mehr wie lange ich schon ging, wie lange ich noch gehen würde und dann war er da, der Moment: „No Mind“

Wie ein Bildschirmschoner. Es gab nur noch mich und das Wasser. Ich war endlich allein, alles war eins.

Es verging viel Zeit, die Hinweise meines Körpers ignorierte ich, meine Beine wechselten sich ab und trugen mich langsam nach oben. Ich machte immer mal wieder Mikropausen, ein Wort, was bestimmt ganz viele arrogante Sportler benutzen, ich wollte einfach nur verhindern, abzukühlen. Als es hell war, überholten mich immer wieder Leute, sie waren nicht außer Atem, schlanker und schneller als ich. Ich verglich mich mit ihnen. Und das machte mich wütend.

„Des Glückes Tod ist der Vergleich“

Immer wenn man denkt, es müsse anders sein, ist man unglücklich. Glück bedeutet, zu akzeptieren wie es ist. Immer! Egal, ob es das Wetter ist, die Farbe des Autos oder wie viel Körperfettanteil man hat, wenn ich denke, es müsse anders sein, bin ich unglücklich. Sich mit anderen zu vergleichen, ist wie in den Spiegel zu schauen. Wie du beurteilst, was du in ihm siehst, ist allein und zwar ganz allein deine eigene Entscheidung. Du bist verantwortlich!

Der Verstand hatte sich wieder eingeschlichen. Der Aufstieg zeigte mir meine Meister, die Aufgaben, die mir noch blieben, die Minderwertigkeiten, die mich noch begleiteten.

Ich spürte meine Beine nicht mehr, mein Rucksack war tonnenschwer geworden, ich hatte Muskelkater im Zwerchfell durch das schwere tiefe Atmen, meine Nackenmuskulatur verkrampfte fast. Noch nie in meinem Leben hatte ich meinem Körper solche Strapazen zugemutet und doch fühlte es sich gut an. Ich starrte auf die großen massiven Stufen, fragte mich, welche von ihnen mein Grabstein sein würde. Der Gedanke gefiel mir, ich wollte einen besonders schönen Grabstein und so suchte ich nach der schönsten Stufe.

Irgendwann überholte mich eine bildschöne Irin ungefähr in meinem Alter. Wir kamen ins Gespräch und bestritten die letzte halbe Stunde gemeinsam. Wie durch ein Wunder, verging sie schnell und ging leicht von der Hand. „Männer..“, sprach mein Verstand und er hatte Recht, Männer sind dann doch irgendwo ganz simple Kreaturen und Frauen sind einfach toll!

Oben angekommen, bedankte ich mich bei ihr und wir gingen unserer Wege, ich war mir sicher, das Universum hatte sie geschickt. Ein Engel, der mir erschien und danach für immer verschwand. Auch heute sollte ich nicht abtreten.

Vor dem großen Eingang zum Weltwunder stand eine große Menschenmasse, die meisten waren mit dem Bus hochgekommen. Ich erblickte Tjorben, der sich freute mich zu sehen. Er stand neben einem Mann mit langen dunklen Haaren. Es war Punkt 7 Uhr. Ich hatte es geschafft. Ich hatte in Südamerika einen hoch bekommen: meinen verwöhnten Körper. Ich war stolz!

Wir betraten das Denkmal und Andre, der Guide fing an, uns Heilpflanzen zu zeigen. Ich ahnte, diese Führung wird anders. Es war noch waldig, doch dann lichtete es sich und das erste Inka-Gebäude zeigte sich.

Es war das schönste, was ich in meinem ganzen Leben jemals gesehen habe! Es fühlte sich wie ein Traum an, war ich wirklich dort, gibt es sowas wirklich? Es war, als wäre ich in einem Gemälde gefangen, doch ein Mensch wäre nie in der Lage so ein Bild zu erschaffen, es war größer, mächtiger und eindrucksvoller.

Andre erzählte von der Religion der Inka, von Pachamama, das ist die Mutter Erde, der Boden der uns magisch anzieht, der uns nährt, der uns auffängt, aus dem wir gemacht sind und zu dem wir wieder werden. Von Inti dem Sonnengott und von Apus, den Berggeistern. Die großen Berge sind die Großeltern und die kleinen Berge sind die Geschwister.

„Life is a challenge, not a competition!“

Das Leben fordert uns täglich neu heraus, siegen wir, kommt eine neue Aufgabe, verlieren wir, lernen wir daraus. Es hat keinen Anfang und kein Ende, es gibt keinen Wettbewerb, weil wir Menschen eh schon alle Gewinner sind. Wir haben ein Geschenk erhalten, das größte Geschenk, das es gibt: das Leben.

Er wies auf ein Tier: „Learn from this creature. It has reached all the secrets of life!“

Das Alpaca jagt keinen falschen Geistern hinterher, kein falscher Leistungsdruck, keine Zielerreichungsstaffel, es lebt einfach, es IST einfach. Die Inka hielten dies für die Erleuchtung und sie hatten Recht.

Wir gingen weiter zu einer Anhöhe, von wo aus wir den legendären Ausblick auf Machu Picchu erhalten würden. Machu Picchu bedeutet auf Quechua „Alter Berg“. In vielen indigenen Kulturen war es üblich, das Alter mit Weisheit gleichzusetzen. So waren Stammesälteste oftmals die Häuptlinge oder Anführer. Die Inka wussten, dass die Berge unvorstellbar alt waren, von den Bergen konnte man alles lernen und sie standen über allem.

Auf dem Weg zeigte uns Andre eine Pflanze die dort überall wächst, wir sollten sie essen. Sie schmeckte intensiv nach Anis und war süß. Die Inka sprachen ihr eine wundheilende und antientzündliche Wirkung zu.

Als wir die Anhöhe erreichten, sah man nichts als eine komplett einheitlich weiße Leinwand. Eine große Wolke zog vorbei und versperrte die Sicht komplett. Magisch! Das Wetter hier oben wechselte wie in einem Zeitraffer. Alle paar Minuten hatte man einen völlig neuen Blick auf den Ort und das Drumherum.

Es lichtete sich der Vorhang, binnen weniger Sekunden tat sich das versprochene Bild auf.

Man kennt das Bild aus Schulbüchern, Film und Fernsehen. Und nun stand ich leibhaftig dort an diesem Ort. Er strahlte eine solche Kraft und Energie aus, die Augen blieben feucht und ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper. Er hatte sich noch nicht erholt von dem Aufstieg, meine Atmung bemühte sich den verbrauchten Sauerstoff wieder einzuholen. Auf 2500 Metern dauerte dies entsprechend lange. Andre zückte eine kleine Plastiktüte, die er wie eine Halskette trug. Er holte Cocablätter hervor und zeigte uns, wie man diese zu sich nimmt. Er nahm drei unterschiedlich große Blätter und legte diese leicht versetzt übereinander. Das große Blatt steht für Viracocha, den Schöpfer, das mittlere für Inti, die Sonne und das kleinste für einen selbst. Er legte sie auf den Boden, Pachamama, und steckte sie sich dann in den Mund. Dazu nahm er einen kleinen Brocken einer dunklen Masse aus Kakao, Minze, Stevia und Honig zu sich. Nun kaut man die Blätter und vermischt sie im Mund mit der Masse. Ich tat es ihm gleich und nach wenigen Sekunden öffneten sich meine Augen, mein Kopf wurde frei und ich bekam gut Luft. Das enthaltene Kokain weitet die Blutgefäße und stimuliert den Kreislauf. Wow! Ich fühlte mich lebendig und energetisiert.

In der Ferne sah man die Überreste eines kürzlich geschehenen Erdrutschs. Er hatte drei Menschen unter sich begraben. Ein Ehepaar und ihre Tochter. Pachamama hat sie zurück genommen, ihr Weg war zuende. Der Tod ist unbedingter Teil der Natur, des Lebens.

Egal auf welcher Seite des Berges ich stand, es bot sich mir wahrhaft ein Bild für die Götter.

Nieselregen auf der Linse – sieht cool aus!

Wir gingen zu den Ruinen und Andre zeigte uns die beindruckende Bautechnik. Die anderen Guides erzählten viel von Zahlen, Daten, Fakten und der Geschichte. Dinge, die man sich auch bei Wikipedia durchlesen, oder von Chat GPT erklären lassen kann.

Andre hingegen lehrte uns Dinge, die man nicht nachlesen kann, die man nicht verstehen kann, die man nur erleben kann. Ich fing an, ihn dafür anzuhimmeln, der Ort, die Zeit, die Anreise und alles drum herum versetzten mich in einen Zustand puren Bewusstseins. Die Cocablätter leisteten auch ihren Beitrag.

Danke Andre!

Die bunten Touristengruppen verschandelten die Landschaft, doch ich akzeptierte es, schließlich konnte ich es nicht ändern, ich war ja selber Teil davon. Ich bemühte mich, Fotos zu machen, auf denen sie nicht zu sehen waren, damit ich mich nicht an sie erninnern muss, wenn ich die Bilder betrachte. Die Touris taten, was Touris tun. Geschmacklose Selfies und Gruppenfotos. Sie zahlten viel Geld, ließen ihre Körper dorthin fahren, doch wirklich dort waren sie nie. Andre erhob uns über sie: „There are travellers, and there are tourists.“, er verstand, was in mir vorging.

Die Ruinen waren atemberaubend. Große Steine waren nach dem Nordstern ausgerichtet. Die riesigen Terrassen an den Hängen rund um den Berg wurden von den Inka so angelegt, dass das Sonnenlicht immer auf die Pflanzen schien, die gerade Sonne brauchten. Die Inka betrieben dort hocheffiziente Permakultur. Es lebten damals hauptsächlich Frauen und Kinder auf Machu Picchu. Bei den Inka waren die Frauen heilig, sie sind Quell für das Leben und in ihnen lebte all das Gute dieser Welt. Die Männer waren ehrbare Krieger und lebten in Respekt und Ehrfurcht mit den Frauen zusammen. Eine Hochkultur, die in absolutem Einklang mit der Natur lebte.

„Nature isn‘t a part of you, you are a part of nature“

Auf dem Hauptplatz am großen Tempel, bedankte sich Andre. Seine Führung war hier vorbei, doch viele seiner Worte werden mich immer weiter führen. Wir gingen den restlichen Rundweg um Machu Picchu und dann wieder Richtung Ausgang.

Die Erinnerung an den Aufstieg war seltsam verblasst. Tjorben und ich entschieden, zu Fuß wieder runterzusteigen und unten dann den Weg zurück nach Hidroelectricas zu wandern, dort würde ein Bus auf uns warten. Für die Strecke hätten wir vier Stunden Zeit.

Wir stiegen also ab, die Strecke die ich hochgekommen war wieder herunter. Treppen hochsteigen geht in die Oberschenkelmuskeln, den Rücken und den Bauch, Treppen heruntersteigen beansprucht vor allem die Fußknöchel, die Knie und den Nacken. Durch die Unebenheit und die unterschiedliche Höhe der Stufen, muss man sehr aufmerksam sein, damit man nicht umknickt oder falsch auftritt. Meine Stiefel schützten zwar gut vor dem Umknicken, aber stürzen bedeutet im Zweifel den Berg runterfliegen und mehr oder weniger tödlich zu landen. Der Abstieg ging wesentlich schneller, war aber auch sehr anstrengend. Auf der letzten Hälfte stöhnte ich bei jedem Schritt wie ein Tennisprofi.

Unten angekommen, machten wir uns dann erschöpft auf den Weg, den wir mühsam am Tag zuvor hinter uns gelegt hatten. Diesmal schien die Sonne und es regnete kaum.

Ich spürte wie die Sehnen und Muskeln an meinem Fußgelenk damit begannen, ihre Funktion langsam einzustellen. Das Spannende beim Wandern ist die Beobachtung des eigenen Körpers. Wandern ist Meditation. Irgendwann lassen die Gedanken nach und alles, was übrig bleibt, ist die Bewegung. Wo setze ich meinen nächsten Schritt hin? Nach und nach spürt man die Belastung der monotonen Bewegung. Die Zehen drücken im Schuh, die Knie werden weich, der Nacken verspannt, die Knöchel verlieren an Stabilität. Der Körper zahlt mit jedem Schritt, den er tut einen kleinen Teil an die Natur zurück.

Wir gingen an dem großen Erdrutsch vorbei, unter dem die Familie begraben war.

Wir kamen an dem Dorf an und setzten uns an das Restaurant, wo die Kleinbusse standen. Mein Körper hatte alles gegeben, ich konnte nicht mehr. Ich aß einen unglaublich traurigen Cheeseburger und trank ein kühles Wasser. Man sagte mir, das Essen sei bei der Tour inklusive. Überraschungen überall! Wir trafen eine Schweizerin und eine Französin, beide sprachen gutes Deutsch. Wir verstanden uns gut, jedoch war für Gespräche wenig Energie übrig geblieben. Die Französin hatte die Tour im knappen Sport-BH bestritten, die Mosquitos hatten keine Gnade walten gelassen, am ganzen Oberkörper war sie übersäht mit Stichen. Ich beneidete sie nicht, mich hatten sie glücklicherweise verschont.

Wir stiegen in den Bus, der uns endlich wieder nach Cusco ins Hostel bringen würde. Die Fahrt ging die selbe Strecke zurück, das Geröll war von der Straße geräumt worden. In Südamerika passieren blöde Sachen, diese werden aber absolut zeitnah wieder aufgeräumt. Mitten auf der Schotterstrecke blieb der Sprinter stehen. Die komplette Straße war aufgemacht worden und die Arbeiter verlegten Kabel darunter. Ich lachte lauthals vor Entsetzen. Unglaublich! Man konnte nicht wenden und da war ein großes Loch in der Straße. Ich sah mich schon in dem Bus übernachten, doch dann kamen Arbeiter mit einem Bagger, sie legten die letzten Kabel, schütteten das Loch zu und ebneten dieses mit der Schaufel des Baggers. Keine 15 Minuten später fuhren wir weiter. Südamerika wartet regelmäßig mit großen Verblüffungen auf!

Ich saß direkt am Fenster auf der rechten Seite und konnte in die Tiefe blicken.

„Heute ist ein guter Tag zu sterben!“

Diesen Satz sage ich mir täglich. Mein Leben ist ein Geschenk, ich lebe jeden Tag, ich genieße jeden Moment, ich bin dankbar für alles was das Leben mir bietet und wenn es vorbei ist, dann ist es gut gewesen. Jeder Moment fühlt sich wie der Himmel an und jeder Moment könnte mich dorthin bringen.

Wir verließen die Schotterstrecke, ab jetzt nur noch Asphalt und Speed Bumps. Es war nicht heiß draußen, doch der Fahrer schaltete trotzdem die Klimaanlage ein. Meine nassen Klamotten und die Klimaanlage ließen mich bis ins Mark frieren. Der Fahrer wollte wohl auch schnell nach Hause, er fuhr irrwitzig schnell, die Serpentinen rauf und runter, rasend um die Kurven. Es war als würde man in einer langsamen Achterbahn fahren, ohne sicheren Gurt und in einer nicht enden wollenden Zeitschleife gefangen. Es war unerträglich, die schlimmste Busfahrt aller Zeiten. Ich hörte Musik und trotz aller Widrigkeiten schlief ich so halb ein, bis wir nach sechs Stunden endlich in Cusco am Hauptplatz ankamen und das Schreckensmobil, den Kühltransporter, den Achterbahnwagen verlassen durften. Ich wünschte der Französin eine gute Reise und ging zurück ins Hostel. Die Energie dafür hatte ich mir beim Universum ausgeliehen, anders kann ich mir das nicht erklären.

Viele Opfer hatte ich erbracht, um Machu Picchu sehen zu dürfen. Ich ging mit vollem Körper und leerem Kopf und kam wieder mit einem komplett leeren Körper und einem prall gefüllten Kopf.

Es war die heiligste Erfahrung meines bisherigen Daseins.

Ich ging in Berührung mit dem Antonius von vorher, ein Junge, wertlos, einsam und klein, der Trost im Essen und in digitalen Welten suchte, dem die Aufgabe seines Lebens nicht klar war, verdammt dazu verletzt und ungeliebt zu sein.

Ich bin Antonius! Ich bin unschätzbar wertvoll! Ich wachte aus dem Albtraum auf und ließ den Jungen hinter mir. Der Mann war auferstanden und nun erlebe und erzähle ich meine eigene Heldengeschichte. Es war nicht das Ziel Machu Picchu, welches mich erkennen ließ, aber Machu Picchu gab mir die Reise, die mir all dies schenkte!

„There is no road to happiness, happiness is the road“