Antonius Eschke | Eine Reise

Das Ego und die Berge

Sonntag, 7. April 2024 | Reiseberichte

Nachdem wir schon die Laguna Cuicocha gemacht hatten, hatten Tjorben und ich Blut geleckt. Wir wollten noch eine weitere Laguna besichtigen. Die Laguna Mojanda liegt am gleichnamigen Mojanda-Vulkan. Tjorbens Vater war bereits mit Frau und Kind nach Deutschland für einen Familienbesuch aufgebrochen und wir hatten das Haus für uns. Uli hatte uns noch eine der berüchtigten Schatzkarten angefertigt, ein grober Umriss, wie man zur Laguna kommt, plus einen Extra-Aufstieg zu den Fuya-Fuya-Gipfeln.

Tjorben und ich machten aus, am nächsten Tag um 8 Uhr zu starten. Ich stand früh auf, zog meine Wanderausrüstung an, cremte mich mit Sonnenmilch ein und packte meinen Rucksack. Das einzige was Tjorben in der Zeit zustande brachte, war sich noch einmal im Bett umzudrehen. Kein Morgenmensch, absolut kein Morgenmensch.

Um 9:15 Uhr glitt Tjorben dann souverän in seine völlig ausgelatschten Birkenstocks und wir konnten los. Die Tour startete an der Bushaltestelle in der Nachbarschaft. Wir stiegen in den nächsten Bus nach Otavalo ein, die zweite größere Stadt in der Gegend. Tjorben machte nicht den Eindruck, besonders viel Lust auf die Wanderung zu haben, obwohl er sie sich vorher am meisten gewünscht hatte. Kein Morgenmensch!

Ich war bester Dinge, in mir hatte sich eine regelrechte Sucht nach der nächsten Wanderung entwickelt. Nach den letzten Wanderungen hatte ich mich einfach blendend gefühlt, die körperliche Anstrengung war zwar immens aber ich wurde immer mit einer tollen Aussicht und einer tollen Geschichte belohnt.

In Otavalo frühstückten wir. Es gab ein Frühstück bestehend aus Reis, Brötchen, Spiegeleiern und einem halben Hähnchen in einer roten Soße. Reichhaltig aber trotzdem leicht verdaulich, perfekt für die Wanderung. Danach fragten wir uns im Gedrängel am Terminal zu einem Bus nach Imbabuela durch, eine Ortschaft nicht weit draußen an den Hängen des Mojanda. Ein kleinerer Bus nahm uns mit. Imbabuela ist ein Dorf entlang einer großen Kopfsteinpflasterstraße, die steil den Berg hinauf führt. Der Bus quälte sich und heulte auf, die Strecke war eher für Geländewagen gedacht, als für Linienbusse. Tjorben saß seelenruhig auf seinem Platz und spielte auf seinem Handy. Ich war ungeduldig und hatte Sorge, den richtigen Ort zum Aussteigen zu verpassen, die Schatzkarte war für mich irgendwie nicht eindeutig. Wir stiegen an einer Stelle aus, ich drehte mich einmal um und konstatierte: falsch ausgestiegen. Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen, wir gingen den Rest der Straße hinauf und überholten eine ältere Dame, sie fragte, wo wir hin wollen würden und als wir ihr sagten, dass wir zur Laguna rauf wollen, da lachte sie lauthals und schüttelte den Kopf. Wir ließen uns nicht entmutigen und gingen weiter.

Irgendwann kamen wir an dem Bus vorbei, der ganz oben an der Straße gedreht hatte und nun wartete. Auch der Fahrer lachte, wir hätten lediglich noch drei Minuten im Bus bleiben müssen. Am Ende der Straße gabelten sich eine andere Straße, ein Feldweg und ein Trampelpfad. Es war nun an uns, den richtigen Weg auszuwählen. Tjorben entschied sich für den Trampelpfad, ich vertraute seinem Urteil und wir gingen los.

Wir sprachen nicht viel, Tjorben war trotz seines zweifelhaften Schuhwerks wie immer beachtlich schnell. Die erste Stunde der Wanderung fühlte sich tierisch anstrengend und kräftezehrend an. Dennoch zog ich wieder durch und setzte einen Schritt vor den anderen. Hier in Südamerika legte ich ein komplettes Kontrastprogramm zu meinem Leben in Deutschland an den Tag. Die 23 Jahre Sesselfurzen vor der Glotze spürte ich in meinem Rücken. Die Tonnen an Zuckerplörre und Fast Food spürte ich in meinen Knien. Über die Jahre hatte ich mich mit flächendeckender Mittelmäßigkeit zufrieden gegeben, das spürte ich in meinem Hinterkopf. Doch nun war aus der Raupe ein Schmetterling geworden.

„Der sicherste Ort für ein Schiff ist der Hafen, doch dafür wurde es nicht gebaut!“

Ich liebte es. Das Wandern. Das Schnaufen. Das Schwitzen. Das Bezwingen.

Es dauerte nicht lang, da konnte ich eine atemberaubende Aussicht genießen. Es war nicht zu heiß, die Sonne schien und eine leichte Brise wehte, die Bedingungen waren optimal. Wir wanderten immer weiter, Tjorben voran, er wählte die Pfade aus, die wir hinaufwanderten. An jeder Kreuzung wartete er auf mich.

Nach einer Weile kamen wir auf eine Kuhweide. Ein klarer Weg war nicht wirklich herauszumeißeln, so suchte Tjorben die Waldkante nach einem Durchgang ab und wurde fündig. Die Weide war voller wildwachsender Lupinen. Es war interessant, all die exotischen Pflanzen, die ich von zuhause kannte, mal in natura zu erleben.

Je höher wir kamen, umso rauer wurde die Umgebung. Aus satten grünen Pflanzen und bunten Blumen wurden karge Sträucher, Kakteen und Gräser. Auch das liebte ich. Die Natur zeigte mir, dass ich voran kam, sie änderte das Bild und die Strecke, sorgte für Abwechslung. Es war richtig kalt geworden, wir waren ja auch auf 3500 Metern Höhe. Ich zog meinen Poncho über.

Entlang des Weges floss ein kleiner Bach, der aufgrund der Regenzeit viel Wasser beförderte. Ich liebte die Geräuschkulisse. Auf einem großen bemoosten Stein machte ich eine Pause. Ich legte meinen Rucksack ab und bestaunte das starke Dampfen meines Rückens. Während sich meine Atmung langsam beruhigte, überlegte ich, was der Dampf bedeuten mochte. Vielleicht ließ mein Rücken Stress und Schmerz los. Ich trank einen guten Schluck Wasser und vergrub meine Hände im Moos. Andre, der Guide auf Machu Picchu erzählte, dass die Inka ihre Hände auf die Erde legten, um sich von Pachamama, der Mutter Natur neue Kraft geben zu lassen. Es war ein großartiger Moment. Zum ersten Mal fühlte sich die Pause nicht wie eine Schwäche an. Die Pause war vielmehr ein weiterer Schritt auf meiner Wanderung. Ich spürte die Energie, die durch meine Hände floss, ich spürte die bösen Geister, die mich über meinen Rücken verließen. Ich spürte das Wasser in meinen Blutbahnen. Ich spürte das Leben.

Dann legte ich wieder an und ging weiter. Das war keine bewusste Entscheidung, merkte ich. Mein Körper hatte sich einfach fortbewegt. Das Wandern lag mir wohl nun im Blut.

Ab jetzt kostete das Weitergehen keine Überwindung mehr, meine Beine machten Dienst nach Vorschrift. Meine Atmung war rhytmisch und warm. Die Reize minimierten sich, mein Verstand kam zur Ruhe.

„No Mind“

Ich traf Tjorben wieder. Er hatte auch eine längere Pause gemacht, um auf mich zu warten. Es ging ihm nicht gut, er war ausgelaugt und ausgerutscht und hatte sich eine Wurzel in den nackten großen Zeh gerammt und musste danach durch Schlamm gehen. Wie konnte das nur passieren? Achja, ich erinnerte mich.

So waren unsere Wanderungen bisher immer verlaufen. Tjorben geht schnell vor, während ich mich abmühte. Auf halber Strecke aber trafen wir uns wieder, er mit gebrochener Moral und verletzten Füßen und ich mit meditativer Zielstrebigkeit und neugewonnener Energie. Das letzte Stück gingen wir zusammen. Wir entschieden an einer Kreuzung die Straße zu nehmen, da Tjorben dem natürlichen Wanderweg nicht mehr traute. Nach einer Weile war sie dann endlich zu sehen: die Laguna.

Erleichtert kamen wir am Wasser an und sahen allerhand Autos auf einem Parkplatz stehen. Viele Leute liefen umher und aus einem Kofferraum heraus verkaufte eine Familie gegrilltes Hähnchen, Morada Colada und Chocho. Chocho ist eine kleine Portion Lupinen mit Tomatensaft, Zwiebeln und Koriander. Dies wird in Peru und Ecuador überall angeboten und kostet nur wenige Cent. Für einen kleinen Verkaufsstand üblich hatte die Familie am Fahrzeug ein Megafon installiert, aus dem in ohrenbetäubender Lautstärke eine krächzende Frauenstimme ertönte, die alle zu verkaufenden Speisen herunterratterte. Ununterbrochen. Wie sich herausstellte, war das in der gesamten Umgebung gut hörbar. Wie können die nur? Da möchte man die Stille an diesem Ort genießen und dann stellen die sich da einfach hin und machen alles kaputt um ein paar Hülsenfrüchte zu verscherbeln. Aber ich erinnerte mich an den geerdeten Zustand und akzeptierte es. Ich konnte es ja nicht ändern.

Wir standen ein paar Minuten am Wasser. Tjorben fragte vorsichtig, ob ich noch den Extra-Aufstieg von Ulis Karte machen wolle. Ich sagte ja. Wir waren jetzt schon 6 Stunden gewandert und auf die weiteren 1,5 Stunden würde es ja nun auch nicht mehr ankommen. Ich hatte Verständnis für Tjorben und bot an, dass wir uns später zuhause treffen. Doch er ging mit.

Es war bereits 15 Uhr geworden. Die Baumgrenze hatten wir hinter uns gebracht, die Berge waren nur noch von spitzen mürben Gräsern bewachsen. Die Wolken zogen über die Berge und die Lagune, es war mystisch.

Es wurde immer steiler, wir waren mittlerweile auf 4000 Metern angekommen. Das Atmen fiel schwer und das Herz raste. Doch wir gingen weiter.

Es kamen uns ab und zu Leute entgegen. Wir begrüßten sie und auf eine Nachfrage hin, meinte ein Mann, dass es noch zwei Stunden Aufstieg seien. Tjorben zweifelte immer mehr an dem Plan, die Fuya Fuya Gipfel zu erklimmen. Dann trafen wir eine kleine Gruppe und einer von ihnen war Dimitris. Den Griechen hatte ich bei einer San Pedro Zeremonie vor einer Woche kennengelernt. Die Zeremonie war ein sehr prägendes Ereignis für mich und ich hatte entschieden, darüber nicht zu schreiben, sondern es meine persönliche Erfahrung bleiben zu lassen. Dimitris spielte dabei aber eine sehr wichtige Rolle und ich hatte ihn ins Herz geschlossen. Wir hatten keine Nummern ausgetauscht, sondern verblieben in einer heiligen Verbindung. Doch nun traf ich ihn wieder, eines Nachmittags am trostlosen Hang eines Berges, weit draußen in den Sierras Ecuadors. Wir waren voller Freude und tauschten Nummern aus. Das Universum hatte noch Pläne für uns beide, unsere gemeinsame Geschichte sollte noch weitererzählt werden. Ich war sprachlos.

Dann verabschiedeten wir uns und gingen weiter. Nach ein paar Metern setzte sich Tjorben hin. Ich setzte mich neben ihn. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Er würde wieder absteigen und nach Hause fahren. In einer Stunde würde es dunkel werden und wir waren noch nichtmal oben. Und dann müssten wir im Dunkeln wieder herunter und dann müssten wir noch jemanden finden, der uns wieder mit runter nimmt. Im Dunkel würden alle Besucher aber bereits wieder weg sein.

Er ging wieder runter. Ich wollte nicht, ich ging weiter. Ich wollte unbedingt diesen Gipfel besteigen. Dann rief Tjorben laut:

„Das ist nur dein Ego, was da hoch will!“

Damit hatte er mich. Und er hatte Recht. Es war nicht die Aussicht, an die ich dachte, es war nicht die Erfahrung, an die ich dachte. Es war einzig und allein die Geschichte, die ich erzählen wollte. Es war mein Ego, welches den vorzeitigen Abstieg für eine Niederlage hielt. Das Ego welches in einer Dimension von Sieg und Niederlage denkt. Unglaublich! Der Verstand hatte sich wieder eingeschlichen. Ich hatte es nicht bemerkt, das Ego findet verschlungene perfide Wege, sich irgendwie wieder Zugang zu verschaffen. Ich ging runter und schloss zu Tjorben auf. Ich dankte ihm, sein Impuls war nötig gewesen. Ich erzählte ihm davon, nur eine Geschichte erzählen zu wollen und toll gefunden zu werden. Auch er hatte diesen Gedanken und war ihm rechtzeitig auf die Schliche gekommen. Ich war stolz, denn die Geschichte würde trotzdem gut werden. Tjorben schlug vor sie:

„Das Ego und die Berge“

zu nennen. Ein toller Titel! So sollte es sein, eine Geschichte, wie wir den Übermut bezwangen und der Realität ins Auge blickten. Und am Ende meines Aufstiegs hatte ich doch bereits die größte Belohnung erhalten, ich hatte Dimitris wieder getroffen, einen Bruder im Geiste. Wer weiß, was wir noch zusammen erleben würden. Das Wiedersehen sollte mein Gipfel sein.

Zurück an der Lagune trafen wir Dimitris und seine französischen Freunde wieder. Wir fragten, ob sie uns mit nach unten nehmen würden. Wir tranken noch einen Morada Colada. Es wärmte und spendete Energie.

Dann stiegen wir in das Auto ein, Dimitris meldete sich freiwillig, im Kofferraum Platz zu nehmen. Wir fuhren die schier endlose Kopfsteinpflasterstrecke herunter. Kein anderer der Besucher oben, war hoch gewandert. Sie alle waren mit Auto gekommen und hatten den letzten Aufstieg zu den Gipfeln zu Fuß gemacht. Wir hatten definitiv großartiges geleistet. Ich unterhielt mich mit einem der Franzosen, der seit zwei Jahren in Ecuador lebte und bemerkenswert gut englisch sprach. Er erzählte mir, wie man mit Bus am besten von Cotacachi nach Peru käme.

Wir stiegen an der Panamericana aus, bedankten uns und nahmen den nächsten Bus nach Hause.

Ich war dem Franzosen unendlich dankbar, jetzt war die Planung für die nächsten Tage kein blinder Fleck mehr, sondern ich wusste jetzt, wie ich die Weiterreise nach Trujillo anstelle. Man muss im Leben einfach nur geduldig, in Bewegung und aufmerksam sein. Das Leben öffnet immer eine Tür. Dieses Urvertrauen ist eines der größten Geschenke, die es gibt.

Und in zwei Tagen sollte sie starten: meine Weiterreise zurück nach Peru, ganz alleine.