Antonius Eschke | Eine Reise

Laguna Cuicocha

Samstag, 30. März 2024 | Reiseberichte

Cotacachi liegt im Tal von drei gigantischen Vulkanen. Der Mojanda ist der kleinste mit etwas mehr als 4200 Metern, dem Imbabura mit ca. 4600 Metern und dem Cotacachi selber mit über 4900 Metern. Jeder der drei Vulkane hat eine oder mehrere Lagunen. Die größte von ihnen, die Laguna Cuicocha. Einst ein Vulkan, der nach seinem letzten Ausbruch erlosch und in dessen Krater ein großer See entstand. Er ist knapp 200 Meter tief und die Erdwärme erhitzt das Wasser das ganze Jahr auf eine angenehme Temperatur.

Mit Hilfe deutscher Entwicklungshilfe hat das Ministerium für Tourismus einen malerischen Wanderweg rund um die Lagune installiert und diesen wollten wir entlang wandern.

Der Tag startete wie jeder andere, wir standen alle früh auf, setzten uns an den Frühstückstisch und nahmen unsere erste Mahlzeit ein. Da ich körperlich in einer sportlicheren Verfassung bin, wenn ich vor einer Aktivität wenig bis gar nichts esse, knabberte ich an einer naturbelassenen Scheibe Roggen-Sauerteigbrot. Ich kann nicht beschreiben, wie sehr deutsches Brot mittlerweile zu meinen Grundbedürfnissen zählt. Es ist gut verdaulich, voller komplexer Kohlenhydrate, wertvoller Proteine, Vitamine und Mineralstoffe, ein wahres Superfood. Ich bereitete mir für die Wanderung noch zwei Stullen mit Gouda vor und trank einen großen Becher Kaffee.

Ich packte meinen Rucksack und schnürte meine Stiefel fest, es konnte losgehen. Wir gingen zum Bus-Terminal im Ort und spähten einen Bus aus, der in die Richtung fahren sollte. Wir trafen noch Jorge, einen guten Freund von Uli, er schloss sich an. Dann wurden wir von einem enthusiastischen Fahrer angesprochen, sein Fahrzeug: ein Pickup mit überdachter Ladefläche. Neben Taxis und Bussen eines der üblichen Personentransporter hier. Er würde uns vier direkt zum Nationalpark fahren, für schlappe 6,- $. Wir stimmten zu und nahmen auf der Ladefläche, die man bestenfalls als unbequem beschreiben kann, Platz. Doch aufregend war es dennoch, ein weiteres No-Go in Deutschland auszuprobieren.

Der Wagen fuhr an den Hängen des Cotacachi hoch und hielt an der Passkontrolle. So ziemlich jeder Nationalpark in Südamerika darf nur nach einer Personenerfassung betreten werden, manche von ihnen kosten sogar Geld. Wir durften passieren, besuchten noch einmal das stille Örtchen und dann ging es los. Zunächst ein paar Stufen zur ersten Anhöhe. Die Vegetation bestand aus vielfältigen stacheligen Büschen, Moos und Blumen.

Oben angekommen tat sich dann der erste Ausblick auf die Lagune auf. In ihr liegen zwei grüne Inseln. Es war 8:30 Uhr und die Lagune lag in tiefe Wolken gehüllt, der Nebel waberte über die Bergkämme, es war mystisch, wunderbar kühl und feucht. Ich warf mir meinen Poncho über. Ein tolles Kleidungsstück, fixiert durch den Rucksack, hervorragend belüftet, schützt vor Sonnenstrahlen, Feuchtigkeit und Kälte.

Wir gingen den befestigten Weg am Kamm entlang und genossen die magische Atmosphäre. Die Vegetation hatte sich zum ersten Mal geändert, dies wird sie über die ca. siebenstündige Strecke noch öfter tun. Nun bestand sie aus hohen Gräsern, bunten Orchideen-Arten und Lupinen. Die in Deutschland beliebte Hülsenfrucht wächst hier wild.

Je heller es wurde, umso mehr lichtete sich die Lagune, die starke Sonneneinstrahlung am Äquator brannte sich durch die Wolken wie ein Heizstrahler. Man konnte ihnen beim Schwinden zusehen.

Der Weg wanderte sich sehr angenehm. Ansteigende und ebene Abschnitte wechselten sich ab, so wurde es nicht zu anstrengend und es benötigte keine Pausen. Ich konnte wieder wunderbar in Meditation und eins mit der Welt um mich herum sein. Ich spürte, wie mein Körper nach der Nahtoderfahrung in Machu Picchu Maßnahmen ergriffen hatte, auf solche Anstrengungen besser vorbereitet zu sein. Ich konnte die Pflanzen am Wegesrand bestaunen und das Aktivsein genießen. Der Wille meines eingerosteten Körpers war gebrochen worden, er gehorchte.

Irgendwann ging der Weg rechts den Hang etwas runter und eine Weile durch dicht bewachsene Gräben. Verwunschen und voller Mücken, fühlte ich mich beim Durchqueren wie Indiana Jones, aufmerksam und vorsichtig, nicht auf perfide Spieß- oder Giftpfeilfallen zu treten. Ein Abenteuer.

Schlüsselloch

Die Strecke führte dann zurück zum Kamm, noch ein Stück rauf und dann waren wir schon am höchsten Punkt der Wanderung angelangt. Dort wartete ein kleiner Pavillon mit Bänken, hier pausierten wir und ich aß das erste meiner belegten Brote. Es fühlte sich schon sehr deutsch an, aber über die bisherige Reise hatte sich ein gewisser Stolz in mir entwickelt. Deutsche sind im Ausland als freundliche, hilfsbereite, kluge und anpackende Menschen bekannt und der Ruf gefiel mir. Ich stand auf und ging zum Aussichtspunkt, die Lagune ist wirklich ein kräftiger und wunderschöner Ort. Wir standen zu viert, schauten herab und sprachen wenig. Dann geschah etwas unglaubliches.

Machu Picchu ist in der Form eines Kondors gebaut worden. Kondore sind majästetische Raubvögel und in vielen Regionen der Anden beheimatet. Auf einmal sahen wir einen. Er segelte in der Ferne, den Blick konzentriert auf den Boden gerichtet. Er zog lange Bahnen hin und her und kam näher und näher. Wie versteinert folgte unser Blick dem Geschöpf, als es wenige Meter über uns hinwegflog. Der Kondor drehte und kam zurück. Sein Gefieder flatterte leicht im Wind, seinen Hals schmückte ein weißer Ring, die Flügel waren dunkelbraun. Er hieß uns Besucher in seinem Reich willkommen, wachte und zeigte Präsenz. Die Lagune gehörte ihm, wir brauchten Stunden sie zu erforschen, er aber konnte mit wenigen Flügelschlägen das ganze Gebiet beherrschen. Es war ein Moment, wie man ihn nur einmal im Leben erlebt. Ich verstand nun die Bedeutung, die die Inka diesem Vogel zuschrieben.

Während Adler Angebervögel sind, ist der Kondor in stiller Erhabenheit mit seiner Rolle als weniger bekannter Raubvogel zufrieden.

Nach diesem Spektakel sattelten wir wieder auf und gingen weiter, der Weg ging nun stetig bergab. wir passierten einen Aussichtspunkt nach dem nächsten und jeder war schöner als der andere.

Der Wind fegte über das tiefblaue Wasser, es sah aus wie Geisterpferde, die über die nasse Prärie galoppierten.

Die nun fast schon tropische Landschaft raschelte, es duftete nach Blumen und die Sonne schien kurz durch die Wolkendecke und wärmte meine Haut. Nach einem kurzen Stück direkt am Hang des Cotacachi vorbei betraten wir dann einen dichter bewachsenen Abschnitt, es mutete wie im Regenwald an, aber trockener und weniger warm, die bemoosten Bäume und Sträucher waren aber eindrucksvoll und schön.

Ich spaltete mich etwas von der Gruppe ab, steckte mir die Airpods ins Ohr und hörte Musik.

Kurz nachdem ich die Entscheidung getroffen hatte, die Südamerikareise anzutreten hatte ich mir eine Playlist erstellt, in der ich all die Musik sammelte, die für mich prägend für die Zeit war, die Entscheidung selbst, die Monate bis zur Abreise und all ihre wichtigen Momente. Ich startete die Playlist und das erste Lied erklang:

„Should I Stay Or Should I Go“ von The Clash

Tränen liefen mir an der Sonnenbrille vorbei die Wangen herunter. Mit jeder Träne, ließ ich etwas schweres los. Jede Träne befreite mich ein kleines Stück mehr. Weinen ist etwas starkes, etwas heiliges. Die Bedeutung, die dieses Lied für mich hatte, war immens. Ich hörte es, als ich im Sommer 2023 verzweifelt im Bett lag, nicht einschlafen konnte, aus Angst meinen Job zu kündigen und dafür die Reise zu machen. Nächtelanges Wachliegen. Und nun war ich hier in Ecuador. Ich hatte es getan. Sicher hatte ich die richtige Entscheidung getroffen, es war eine Absolution diesen Song wieder zu hören, hier an dieser Lagune, auf dieser Reise, mit tollen Menschen, die mich meinerselbst wegen achten, schätzen und gern haben.

Das nächste Lied spielte:

„Run Through The Jungle“ von Creedence Clearwater Revival

Wie passend. Ich hatte ihn zur Weihnachtszeit gehört, wenn ich über den dicht besuchten Weihnachtsmarkt zur Arbeit lief, ich trug meine Wanderstiefel ein und fühlte mich selbstbewusst und cool. Ein toller Song! Und ihn jetzt hier zu hören, durch den Dschungel laufend, war kein Zufall, obwohl ich die Playlist auf Shuffle hörte.

Aus dem Wald kam ich erneut zu einer Aussichtsstelle.

„Paradise“ von Kupla

spielte. Ich hatte es zum ersten Mal im Schwarzwald gehört, ich war mit Tjorben, und meinen guten Freunden Omar und Sophie für ein paar Tage dorthin gefahren und hörte das Lied als ich morgens aus dem Dachfenster auf das wunderschöne Schuttertal blickte. Als würde mein Handy wissen, was ich gerade mache, spielte es einen perfekt passenden Titel nach dem nächsten, es war wundervoll.

Der nächste Abschnitt unterschied sich komplett vom Rest der Strecke. Hatte ich was verpasst, wieso war ich denn jetzt in den Alpen?

Plötzlich Nadelwald, grüne Schafsweiden, kalter Wind und Felsen. Abgefahren! Die Wanderung um die Lagune fühlte sich wie eine Miniatur-Weltreise an, ich bekam in kürzester Zeit unzählige unterschiedliche Landschaften, Klima- und Vegetationszonen zu Gesicht, sowas hatte ich bisher nur in Videospielen gesehen. In einem kleinen Waldstück aus großen Fichten rasteten wir wieder. Wir machten es uns auf einer Wiese bequem, der Wind blies mir beinahe die Mütze weg, ein Stück Heimat, herrlich!

Ich aß mein zweites Brot und genoss den Moment der Stille. An einem der Bäume fand ich eine wunderschöne Malerei, es war Pachamama, die Mutter Natur. Für die Indigenas ist die Cuicocha ein heiliger Kraftort.

Die Stille wurde schnöde von einer Gruppe Amerikaner unterbrochen. Es waren Christen und James, ein Pärchen aus Louisiana, die gute Bekannte von uns aus dem Ort waren. Sie waren mit einem befreundeten Pärchen, die sie aus Amerika besuchten, unterwegs. Stille ist etwas, was Amerikaner irgendwie nicht kennen. Fröhlich, aufbrausend und unfassbar laut unterhielten sie sich mit uns. Sie hatten die Tour aus der anderen Richtung begonnen.

Ich mag sie trotzdem sehr, sie sind super lustig und locker drauf, kiffen den ganzen Tag und essen gern. Ich sprach sie auf Gumbo an, einen typischen Eintopf aus den Südstaaten, den ich unbedingt mal essen wollte. Wir verabredeten uns also zum Gumbo-Essen, der Mann des befreundeten Pärchens schrieb sich auf die Fahne, ein hervorragendes Gumbo-Rezept zu kochen. Freudig, machten wir einen Abend aus und gingen weiter. Die Amis gingen in die Richtung, aus der wir kamen.

Das letzte Stück ging vorbei an einer Lama-Farm, teuren Anwesen und Maisfeldern. Ich unterhielt mich mit Uli über das Vatersein, Perfektionismus und Zeremonien. Die Indigenen halten in der Region verschiedene Zeremonien ab, manche in Schwitzhütten, mit verschiedenem Tabak, Ayahuasca oder San Pedro, einem Kaktus, der Mescalin enthält. Ich war neugierig und Uli hatte schon verschiedene Zeremonien besucht und unglaublich heilsame Erfahrungen damit gemacht. Es war spannend, zuzuhören und ich entschied, auch nochmal so eine Zeremonie zu erleben, während ich hier bin.

Wir kamen endlich unten am Tourende an. Dort gibt es ein Touri-Center mit kleinen Shops, einem Restaurant und einer Bootstour über die Lagune. Wir entschieden uns gegen die Bootstour und warteten auf eine Gelegenheit, von irgendwem runter in den Ort mitgenommen zu werden.

Tatsächlich hatte Jorge, der Kumpel von Uli, eine Familie aus Quito dazu überreden können, uns mitzunehmen. Die vierköpfige Familie, sowie wir vier brachten es irgendwie fertig, alle Platz in dem Fünfsitzer zu finden und fuhren los. Noch so ein No-Go in Deutschland, aber super lustig. Vermutlich war die maximale Achslast überschritten und das spürte man auch bei jeder der vielen Speed Bumps. Wir hielten noch einmal an einer Stelle, gingen einen Weg zu einer Aussichtstelle hoch, dort gab es eine große Sonnenuhr und eine Opferschale. Nach sieben Stunden Wanderung waren wir aber müde und hungrig und freuten uns auf zuhause. Dann fuhren wir endlich zurück und kamen erfolgreich zuhause an. Wieder einmal war ein toller Tag vorübergegangen und zum Abendessen gab es Maistortillas, Guacamole, Physalis, Popcorn, Currybutter, Roggenbrot und Käse, der perfekte Abschluss.